Eigentlich

Eigentlich könnte ich heute über Bordelle schreiben oder noch besser über einheimische Freier, jene Männer, die ich immer noch nicht kennen lernen durfte. Ich könnte heute aber auch zurückblinzeln und über Mimosen schreiben oder besser über jene Frauen, die auf der Flucht noch schlimmer dran sind als Männer. Ich könnte darüber schreiben, dass ich bei der Freiwilligenarbeit mit Flüchtlingen viele Frauen treffe. Dort wo es allzuoft viel Ratlosigkeit zu holen gibt und wenig Sichtbarkeit halten sie besser durch. Ich könnte natürlich auch über grassierende Egotrips und Respekt schreiben. Eigentlich. Aber ich mach's mir heute leicht und schreibe über gar nichts. Denn heute werde ich 65, und das wäre eigentlich ein Anlass zum Innehalten.

Wenn ich's genauer anschaue, dann muss ich schon auch zugeben, dass ich bisher eigentlich immer wieder schmerzhaft an die gläserne Decke gestoßen bin.

Aber das ist nicht so einfach, denn ich könnte darüber schreiben, dass 65 eigentlich kein Alter ist, oder darüber, dass ich keine überflüssigen Geschenke mag, darüber dass mich aber ein unverbindliches Allesgute trotz seiner Unverbindlichkeit freut. Natürlich könnte ich darüber schreiben, dass Heidegger und Adorno mit dem hübschen „eigentlich“ viel mehr gemeint haben als ich. Nur verstanden habe ich das nie wirklich. Aber das ist eigentlich egal.

Ich werde also darüber schreiben, dass es mir eigentlich sehr gut geht, weil ich gesund bin, gebildet, weil ich lieben darf und geliebt werde, weil mir nichts fehlt, obwohl ich nicht reich bin, weil ich schon in Rente sein darf, wo andere noch darum ringen. Obwohl, wenn ich's genauer anschaue, dann muss ich schon auch zugeben, dass ich bisher eigentlich immer wieder schmerzhaft an die gläserne Decke gestoßen bin. Das nervt eigentlich. Aber damit bin ich nicht allein.