Erschaffung Adams
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Gastkommentar

Die Kontroverse in der Krise

Die Sache mit der Menschenwürde und dem Wert des Lebens.
Von
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Valentin Widmann12.05.2020

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Kommentare

Bild des Benutzers Karl Gudauner
Karl Gudauner 12.05.2020, 23:31

Papst a. D. Josef Ratzinger würde dem Relativismus sicher heftig widersprechen. Da wäre eine kontroverse Debatte insofern spannend, wenn versucht würde, aus dogmatischer und aus relativistischer Position die jeweiligen ethischen Positionen mit den realen Fakten und Entscheidungen abzugleichen, die tagtäglich in den verschiedenen Lebensbereichen und auf politischer Ebenen getroffen werden. Beide Positionen bieten den Menschen einen Rückhalt bei der Orientierung solange im ersten Fall die apodiktischen Prämissen nicht in Frage gestellt und im zweiten Fall der Gefahr der Entgrenzung ausgewichen wird. Die Lebenswelt halte ich eher für eine Begriffskategorie zur Vermeidung einer grundsätzlicheren Auseinandersetzung mit den genannten Polaritäten. Freiheit bedeutet Ablösung von deterministischen Weltbildern und die bewusste Auseinandersetzung mit den Grenzerfahrungen der Eigenverantwortung. Dass auf dem schmalen Grat der Vernunft die ethische Abwägung von Handlungsoptionen verantwortungsvoll im Sinne des Gemeinwohls gelingt, hängt wesentlich von der positiven Schubkraft unseres geistig-kulturellen Erbes ab. Doch genauso wichtig ist die Abstraktionsfähigkeit, um darauf aufbauend neue Ordnungsparadigmen einer autonormativen Gesellschaft zu entwickeln.

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Valentin Widmann 13.05.2020, 15:43

Lieber Herr Gudauner,
bitte verzeihen Sie, dass ich das Wort an Sie richte. Ein Autor sollte sich stets vom Kommentieren eigener Beiträge fernhalten. Ich breche diese Regel.
Papst Ratzinger würde NATÜRLICH einem ethischen Relativismus widersprechen. Aber bitte übersehen Sie nicht, das ein ethischer Relativismus bereits Theorie ist. Die Aussage "Die Lebenswelt halte ich eher für eine Begriffskategorie zur Vermeidung einer grundsätzlicheren Auseinandersetzung mit den genannten Polaritäten.", greift natürlich nicht. Denn es ist ja klar, dass, wenn man über die Lebenswelt spricht, sie nolens volens thematisiert wird. Das mag am Wesen der Lebenswelt zwar vorbei gehen, ändert aber letzten Endes an ihrer normativen Kraft nichts.
Die Rede über Menschenwürde und auch ihr Wert bemisst sich letztendlich an unserer immer schon exekutierten Praxis. Sie ist der Maßstab für Ihre Geltung.
Vielen Dank für Ihre Bemerkung.
lieben Gruß,
Valentin Widmann

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Sepp Bacher 13.05.2020, 16:54

Hallo Valentin Widmann, "Ein Autor sollte sich stets vom Kommentieren eigener Beiträge fernhalten. Ich breche diese Regel." - brechen Sie die Regel auch öfters und helfen Sie uns, das was Sie so schön geschrieben haben, auch in einer einfacheren Sprache zu verstehen! Danke!

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Karl Gudauner 13.05.2020, 23:37

In der Fachsprache der Philosophen nicht eingeübt versuche ich ein paar Dinge darzulegen, wie ich sie verstanden habe. Die von Valentin Widmann vertretene grundsätzliche Position teile ich soweit, kann aber nicht immer die Argumentation nachvollziehen.
Menschenwürde ist sowohl ein theoretisches Konstrukt von Werten als auch ein Postulat von Handlungsgrundsätzen. Sie erfährt im Rahmen der politischen Entscheidungen zur Reduzierung des Lockdown in einem Güterabwägungsprozess eine Relativierung z. B. in Bezug auf einzelne Menschenleben im Vergleich mit für das Funktionieren der Gesellschaft bedeutenden Organisationssystemen (Wirtschaft, Arbeitsplätze, Einkommesngenerierung). Diese Entscheidungen sind insofern risikobehaftet, als noch nicht absehbar ist, wie genau die Entwicklung verlaufen wird.
Die Bedeutung von Freiheit ist relativ, wenn über einen kurzen Zeitraum Einschränkungen notwendig sind, um Leben zu retten und die Ausbreitung der Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Wachsamkeit gegenüber der Einschränkung der Freiheit ist angebracht, sollte aber auf Kernfragen der gesellschaftlichen Organisation ausgerichtet sein wie die Einhaltung der demokratischen Entscheidungsmechanismen und die Freiheit der Meinungsäußerung und nicht an Distanzierungsregeln festgemacht werden.
Wichtig ist, dass Entscheidungen verantwortungsvoll getroffen werden. Die Lebenswelt als eigene Ebene in den Diskurs einzubauen hat eine andere Wertigkeit als einfach zu sagen, dass sich in der Praxis der Handhabung von Entscheidungen die Menschenwürde als Handlungsmaxime gegenüber anderen gesellschaftlichen Zielen relativieren kann. Als ethisches Postulat bleibt sie dennoch bestehen und zwar als genereller Grundsatz der ethischen Handlungsorientierung. Die Perspektiven können sich je nach Situation und Rahmenbedingungen ändern.
Aus meiner Sicht ist es so, dass in der lebensweltlichen Praxis von mal zu mal die ethischen Grundsätze unseres gesamten gesellschaftlichen Legitimations- und Ordnungssystems interpretiert werden. Ich sehe sie also nicht der Theorie der Ethik vorgelagert. Es sind die konkreten Entscheidungen, die gesellschaftliche Verhaltensweisen auf breiter Ebene beeinflussen und insofern eine normative Wirkung auf akzeptiertes gesellschaftliches Verhalten haben. Die lebensweltliche Praxis könnte auch abgleiten in eine Verrohung bis hin zu einer politischen Triage, wie sie in manchen Ländern zu beobachten ist. Die Anfeindungen gegenüber Silvia Romano sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache.
Die Praxis des Handelns muss deshalb auch immer wieder vor der Entscheidung und ex post mit dem ethischen Gebäude unseres Selbstverständnisses abgeglichen werden. Diese Evaluierung ist wichtig für die Hygiene des gesellschaftlichen Systems und dessen Weiterentwicklung.
Was die Aussagen zur vortheoretischen lebensweltlichen Praxis und zum theoriefreien Raum der Lebenswelt betrifft, ersuche ich den Autor um eine Aufschlüsselung. Danke für den anregenden Beitrag, der auf ein sehr positives Echo gestoßen ist, dem ich nur beipflichten kann.

Bild des Benutzers Sepp Bacher
Sepp Bacher 14.05.2020, 09:44

Ich habe die Frage bezüglich „Wert des Lebens“ so verstanden, dass der Wert des Lebens einzelner Personen - oder einer Minderheit - nicht wichtiger ist, als das eines großen Teils der Gesellschaft, welche mehr Lebens-Spielraum fordert - im Endeffekt auch mehr Freiheit.
Ich interpretiere die Aussage dieses Beitrag - obwohl sich Valentin Wiedmann in guter philosophischer Manier - nicht festlegt, so ähnlich, wie sich bereits vor mehren Wochen der deutsche Ethikrat und der Südtiroler Moraltheologe geäußert haben. Martin Lintner: " Es ist ein Ethischer Grundsatz, dass die Lösung eines Problems, längerfristig nicht größere Probleme zur Folge haben darf als das zu lösende:" und "Jetzt ist der Punkt erreicht, wo die Verhältnismäßigkeit (der restriktiven) Maßnahmen neu zu bewerten ist." und weiters "Zu den Risikogruppen: Mit den bisherigen Maßnahmen hat sie die ganze Gesellschaft geschützt, auch wenn sie dafür einen hohen Preis zahlen wird. Jetzt kommt es drauf an, dass sich die Risikogruppen auch selbst schützen..." Weiters sagt er in etwa, dass das Alter der Risiko-Person nur ein Kriterium neben mehren anderen sein darf. Der Schutz des Lebens müsse mit den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Gesellschaft und der Wirtschaft abgewogen werden müssen. (Zitate aus einem Interview im Kath. Sonntagsblatt.)

Bild des Benutzers Franz Oberhofer
Franz Oberhofer 14.05.2020, 13:30

Sehe ich im Kern auch so, er schließt sich den Positionen des Ethikrates, Schäubles und Lintners an. Der gebotene Schutz für den Lebenswert kann nicht absolut sein. Es ist ja eigentlich schon interessant, dass der dt. Ethikrat das sagt. Ist sehr gewagt, aber vermutlich richtig.
Wenn ich den Artikel richtig verstanden habe legitimiert der Autor dies damit, dass er sagt, dass wir den Wert des Lebens noch nie als absolut betrachtet haben. Deswegen die Beispiele mit Risikoanalysen, Triage etc. Erst wenn wir in einer konkreten Situation diese Abwägung vornehmen müssen, verbietet sich die Abwägung aus moral-theoretischen Gründen (Kant, 10 Gebote).
Allerdings wünschte ich mir auch kurz eine etwas genauere Aufschlüsselung des "vortheoretischen Raumes der Lebenswelt".
Man könnte ja auch sagen, dass die Lebenswelt vor 500 Jahren eine andere war und dort viel schlechtes geschah z.B. Hexenverbrennung oder so.
Dennoch würde ich dem Inhalt intuitiv zustimmen. Danke Herr Widmann und ja, brechen Sie diese Regel öfters.
Franzl

Bild des Benutzers Valentin Widmann
Valentin Widmann 14.05.2020, 18:23

Lieber Herr Gudauner,
lieber Herr Bacher,

vielen Dank für Ihre Bemerkungen und Ihre sehr netten Worte. Gerne versuche ich einige Dinge etwas zu präzisieren.
Der Begriff der Lebenswelt wurde von Husserl und Heidegger für den vorwissenschaftlichen und im Grunde unthematisiert bleibenden Raum der menschlichen Praxis verwendet. Wirklich bedeutend wurde er in meinen Augen durch den späten Wittgenstein mit seinen
"Philosophischen Untersuchungen" und dem gerne übersehenen Werk "Über Gewissheit". Im Grunde ist der Rückgriff auf die Lebenswelt bei der Begründnung unseres Handelns ein "anti-rationalistischer" Ansatz. Und zwar nicht deswegen, weil er etwa der Vernunft widerspräche, sondern in dem Sinne, dass er nicht davon ausgeht, dass es ein höchstes oder letztes metaphysisches Prinzp gibt, auf das unser Handeln im Sinne einer ethischen Letztbegründung, zurückgeführt werden könnte. Aber die Lebenswelt ist eben kein Prinzip und keine Theorie. Sie ist lediglich die Summe unserer immer schon exekutierten sozialen Praxis. Diese ist selbstverständlich nicht per se unveränderlich und hat sich auch immer wieder verändert und zwar dann, wenn bestimmte Praktiken das lebensweltliche Geflecht zu stark strapazierten. Wittgenstein nennt diese Gesamtheit unserer alltäglichen Praktiken übrigens auch "Lebensform".
Es stimmt natürlich, dass die Metaphysik im Allgemeinen auch für unsere Lebenswelt eine große und wichtige Rolle spielt. Im Grunde sind die alltäglichen Selbstverständlichkeiten, von denen ich spreche nichts anderes, als sedimentierte Metaphysik.
Ihre Aussage Herr Gudauener, "Die lebensweltliche Praxis könnte auch abgleiten in eine Verrohung bis hin zu einer politischen Triage, wie sie in manchen Ländern zu beobachten ist.", ist durchaus berechtigt, dennoch sehe ich diese Gefahr nicht wirklich. Denn ich schreibe ja auch, dass uns im Falle, eines tatsächlichen Abgleitens in eine verrohende menschenverachtende Praxis, ein göttliches Gesetz auch nicht mehr retten wird können. Die meisten Praktiken, die ja tatsächlich menschenunwürdig sind und waren, geschehen ja eben genau unter Rekurs auf theologische oder ideologische Prinzipien (siehe Kreuzzüge, Hexenverbrennung, Holocaust, etc), denen gegenüber die Lebenswelt sich ja neutral verhält. Dass es bspw. die Hexenverbrennung (wie Herr Rabensteiner schreibt) nicht mehr gibt, hat sicher damit zu tun, dass diese Praxis sich zu stark an den lebensweltlichen Intuitionen gerieben hat. Irgendawann hat man das einfach nicht mehr mitgetragen. Dasselbe gilt für alle Praktiken, die das lebensweltliche Geflecht zu stark zerrütten.
Ich hoffe ein wenig Klarheit hinsichtlich der Lebenswelt hergestellt zu haben. Entscheidend für die Lebenswelt ist letztendlich das Wirken der Gründe, wie auch Julian Nida-Rümelin schreibt. Und dieses Begründen hört irgendwann auf. Es endet eben in den Selbstverständlichleiten unserer Lebenswelt. Der Spaten biegt sich ganz einfach irgendwann zurück.
Besten Gruß,
Valentin

Bild des Benutzers Karl Trojer
Karl Trojer 13.05.2020, 09:29

Großartige Darlegungen, danke ! Wir Menschen sind als "relative" Wesen beschränkt und so können auch unsere höchsten Werte nicht "absolut" sein. Das Abwägen des kleineren Übels oder der besseren Lösung einer Handlung bleibt der authentisch zu lebenden und "frei" zu entscheidenden Sinngebung unseres Menschseins zugeordnet.

Bild des Benutzers Franz Oberhofer
Franz Oberhofer 13.05.2020, 12:52

Lieber Herr Widmann,
Wow, Danke für diesen Beitrag. Deshalb lese ich salto.bz.
Man muss nicht mit allem gehen, was Sie schreiben, aber Ihr Versuch einer "lebensweltlichen" bzw. praktischen Begründung von Menschenwürde und Lebensrecht ist sehr erhellend. Danke dafür.
Franzl

Erschaffung Adams
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