Vor den Augen der Welt, ja sogar des UN-Sicherheitsrats, dreht der Kreml das Rad der Zeit zurück: vor 2014 (Maidan, die Befreiung vom Janukowytsch-Regime), vor 1991 (Unabhängigkeitserklärung der Ukraine), vor 1922, als die erste sozialistische Sowjetrepublik der Ukraine entstand, und eigentlich schon ins 19. Jahrhundert, als es den Staat Ukraine noch nicht gab, sondern nur die absolute Zarenherrschaft. Als neuer Zar in einem eurasiatischen Raum ohne Völkerrecht und Menschenrechte sieht sich anscheinend auch sein heutiger Herrscher. Der von der Mission der „russischen Zivilisation“ besessene ex-KGB-Mann sieht sich als Wegbereiter des neuen eurasisch-russischen Großreichs mit der Ukraine als Teil davon.
Nach all dem, was die Ukrainer im 20. Jahrhundert unter Russland erlebt haben, wird verständlich, warum sie nichts mehr von einer Kremlherrschaft wissen wollen. Im historischen Gedächtnis der Ukraine ist nicht nur die jüngste Vergangenheit verankert, sondern auch der Holodomor: die durch die Zwangskollektivierung Stalins ausgelöste Hungersnot, die in den 1930er Jahren mindestens 3,5 Millionen Ukrainern das Leben kostete. An dieses und andere Verbrechen unter russischer Herrschaft erinnert Wolfgang Mayr auf VOICES. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen, während der russische Despot von „Entnazifizierung der Ukraine“ faselt. 100 Jahre nach Gründung der ersten Republik Ukraine 1922 entsteht jetzt eine neue „Provinz Ukraine“ von Putins Gnaden.
Die Vorlage für diesen ethnofaschistischen Wahn scheint Slobodan Milošević mit seinem Plan für Großserbien geliefert zu haben, den Russland immer gestützt auch, auch in der Zeit, als Putin schon Präsident war. Dieser Plan ist nach Aggressionskriegen, Massenvertreibung und Völkermord in den Nachbarstaaten Serbiens gescheitert, auch weil Europa und die NATO diese Art von Verbrechen am Ende nicht dulden wollten. Dass Putin für seine Pläne über viele tausend Leichen zu gehen bereit ist, hat man nicht erst seit seinem Invasionsbefehl vom 24.2.2022 erkennen können. Seine Blutspur zieht sich vom 2. Tschetschenienkrieg (1999-2009, 75.000 zivile Opfer), über die Kriege in Georgien, die Annexion der Krim, den von Moskau gesteuerten Aufstand im Donbass, die Ermordung missliebiger Russen im Ausland, den Giftanschlag auf Nawalny und als bisherigen Höhepunkt die erbarmungslose Bombardierung der syrischen Zivilbevölkerung im Krieg des Assad-Regimes gegen das eigene Volk.
In vielen Äußerungen hat Putin deutlich gemacht, dass er die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine von 1991 (90,3% der Wählerschaft hat zugestimmt) eigentlich gar nicht anerkennt. Er hat die Auflösung der Sowjetunion immer als die „größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ bezeichnet. In einem Aufsatz vom Juli 2021 „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ hat Putin seine Linie gegenüber der Ukraine schon vorgezeichnet, die jetzt ablaufende Invasion ideologisch gerechtfertigt: „Ich bin überzeugt, dass die Ukraine echte Souveränität nur in Partnerschaft mit Russland erreichen kann“, schrieb er. Eine Partnerschaft, die jetzt mit Panzern und Raketen hergestellt wird. Mit anderen Worten: Die Ukraine darf souverän sein, sofern sie sich partnerschaftlich unterwirft. In dieser Schrift stellt Putin die Existenz der Ukraine als eigene Nation infrage und behauptet, dass die gegenwärtige Regierung des Landes von westlichen Verschwörungen gesteuert sei.
In seiner Rede im russischen Staatsfernsehen vom 21. Februar 2022 hat Putin seinen Überfall auf die Ukraine angekündigt und gerechtfertigt. Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel bezeichnete diese Rede als eine klassischen „Hatespeech“. Putin komme nicht damit klar, dass das sowjetische Imperium auseinandergefallen sei, so das Zitat auf WIKIPEDIA.. Er flüchte sich zu Stalin, der das große Land zusammengehalten und das Auseinanderdriften der Republiken aufgehalten habe. „Er schleppt die ganze unverarbeitete imperiale Geschichte der Russen mit sich, die unbewältigte Vergangenheit Russlands und der Sowjetunion. Zugleich unterdrückt er die Aufarbeitung und damit das Freiwerden für die Zeit nach dem Imperium.“ Die Inhalte betreffend sei die Rede „einfach völlig irre“. Die angebliche Geschichtsinterpretation diene als Vorspann lediglich dazu, die Ukraine als eigenständige Nation zu negieren und so zu tun, als habe die derzeitige Regierung mit dem ukrainischen Volk nichts zu tun. Putin propagiert laut Schlögel schon seit Jahren die „Russkij Mir“, die „russische Welt“, ein imperiales und völkisches Konzept, demzufolge überall dort, wo Russen leben und wo Russisch gesprochen wird, ein Recht Russlands bestehe, mitzureden und zu intervenieren
Diese Art von militärisch erzwungener „Partnerschaft“ nach Zarenmanier, wie im Aufsatz vom Juli 2021 angesprochen, wird Putin wohl nicht lange überleben. Focus hat mit seiner Analyse von Putins Politik von 2012 wohl recht, als das Magazin zu seiner Politik in sechs Bereichen (Stabilität, Sowjetnostalgie, Modernisierung, starkes Russland, Oligarchen, Demokratie) schrieb: „Je länger Putin das Riesenreich mit Gewalt zusammenhält und auf Unterdrückung setzt, umso größer die Gefahr des Auseinanderbrechens.“ Bis es aber so weit kommt, und Putin mit den anderen Schurken des russischen Regimes vor dem Internationalen Strafgerichtshof steht wie damals Milošević, kann er leider noch viel Leid und Unheil anrichten. Man hätte es wissen müssen.
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Einige kritische Anmerkungen will ich dennoch anbringen: Der damalige georgische Staatschef Saakaschwili ließ sich von der NATO in den Ossetien - Krieg hineintheatern, die NATO bekam kalte Füße und ließ Saakaschwili hängen, als Putin sich das nicht gefallen ließ. Der damalige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Horst Teltschik, schrieb am 2.11.1991 in der FAZ, dass in Russland auch weiterhin mit Krisen zu rechnen sei, was insofern gut sei, als sich dann Deutschland als Ordnungsmacht einbringen könne.
Slobodan Milošević sah sich als Staatschef mit der Herausforderung konfrontiert, für die territoriale Integrität seines Staates sorgen zu sollen, die insbesondere von Deutschland unterminiert wurde: Kohl junktimierte die Zustimmung zum Maastricht - Vertrag mit der Forderung der EU-weiten Anerkennung von Slowenien und Kroatien als eigene Staaten, am 21.12.1992 schrieb das US-Militärmagazin "Defense Foreign Affairs Strategic Policy" von massiven Waffenlieferungen an die Küsten Kroatiens und Bosnien - Herzegowinas, organisiert und finanziert von Deutschland. Diese Waffen kamen dann unter anderem in Srebrenica zum Einsatz. Deutschland legte in der NATO ein Veto gegen die Unterbindung des Waffenschmuggels zugunsten der UCK ein. Darauf wetteiferten deutsche und amerikanische Geheimdienste in der Hochrüstung der UCK.
Europa und die NATO haben 1999 und 2003 selbst völkerrechtswidrige Aggressionskriege geführt und damit die Hemmschwelle für Putins verabscheuenswürdigen Krieg gegen die Ukraine sträflich herabgesetzt. 1999 ging es um die militärische Durchsezung des Neoliberalismus am Balkan; recht offen demaskiert im Leitartikel der "Welt" vom 30.6.2001: "Unser Balkan - alle Lektionen der letzten zehn Jahre kreisen um das eine Wort Macht"
Alice Mahon, die letzte Zeugin im Prozess gegen Milošević, machte deutlich, dass es das angebliche Massaker von Racak gar nicht gegeben hatte und der Krieg gegen Serbien schon längst geplant war. Das bestätigte sich auch im Artikel von Heinz Loquai in der FAZ vom 25.9.1998, wo er die Erpressung der USA (Drohung mit Ende der NATO) durch Volker Rühe bei der NATO-Tagung am 28.5.1998 erwähnte. Mahon bezeichnete dort auch den Krieg 1999 als Türöffner für alle weiteren Kriege (Afghanistan, Irak, Libyen):
https://www.icty.org/x/cases/slobodan_milosevic/trans/en/060301IT.htm
Danke Herr Benedikter!
Auch sehr lesenswert:
Der Kommendar der ehemaligen österreichischen Außenministerin Ursula Plassnik
https://www.derstandard.at/story/2000133675494/fruehere-aussenministerin...
....Wer von uns spürt wirklich noch, dass weder Freiheit noch Frieden selbstverständlich oder gar gratis sind? Könnte es eine Mischung aus Überheblichkeit, Vergesslichkeit und Selbstgerechtigkeit sein? Verausgaben wir uns in Wohlstandsmehrung und Gleichheitsfantasien? Wird Gier zu einer Art Tugend hochstilisiert ("Hol dir, was dir zusteht")? ....
Ach nein, Herr Lechner, sie vermischen eine ganze Reihe von Vorgängen, die man ganz getrennt sehen und unterscheiden muss. Nur zwei Ihrer Behauptungen will ich gleich richtigstellen, weil sie schreiben, 1999 und 2003 hätte die NATO zwei Angriffskriege geführt. Die "Koalition der Willigen", die unter der Führung der USA unter Bush Krieg gegen den Irak geführt hat, war nicht die NATO. Im Kosovo hingegen ist 1999 tatsächlich die NATO interveniert, um Vertreibung und Völkermord zu verhindern. Das hat sich aus der Selbstblockade und Lähmung der UN ergeben, die zum x-ten Mal durch China und Russland an einem gemeinsamen Votum zur Verurteilung und Abwendung der Genozidpolitik Milosevics gescheitert war. Der Westen wollte die blamable Erfahrung von drei Jahren Krieg in Bosnien nicht noch einmal zulassen und dieser verbrecherischen Politik ein Ende gesetzt. Dass es eigentlich um die Durchsetzung eines neoliberalen Systems auf dem Balkan gegangen ist, ein unbewiesenes Märchen. Wo ist er denn heute geblieben, der "durchliberalisierte" Balkan? Dass die USA heute Stützpunkte im Kosovo haben und der Kosovo um diese Unterstützung dringend ersucht hat, ist eine Folge von 90 Jahren Unterdrückung der Kosovo-Albaner durch serbische Regimes verschiedener Art. Genauso wie nach 2014 die Ukraine geradezu gezwungen wurde, bei der NATO und EU Schutz zu suchen, nachdem sie immer stärker in ihrer Souveränität durch Russland gefährdet und bedroht worden ist.
Herr Benedikter, ich komme nicht um eine Richtigstellung Ihrer Richtigstellung herum. 2003 war es zwar formell eine Koalition der "Willigen", aber die bestand aus NATO-Mitgliedern wie Großbritannien oder Polen. Selbst Deutschland, das formell nicht dabei war, war mittelbar durch Piloten der NATO-Streitkräfte dabei.
1999 begannen Vertreibung und Völkermord erst mit dem Kriegseintritt der NATO. Die letzte Zeugin im Prozess gegen Milosevic sagte aus, dass sie bei ihren Nachforschungen am Balkan keinen Beleg für das angebliche Massaker von Racak finden konnte. Außerdem wäre es zeitlich zu knapp für die real erfolgten Kriegsvorbeitungen gewesen. Die ARD berichtete am 5.5.1999, dass noch im März 1999 Asylansuchen einiger Kosovo-Albaner abgelehnt wurden, weil den Behörden keine Erkenntnisse über eine ethnische Verfolgung vorliegen. Realiter wurde der Kosovo-Krieg bereits bei der NATO-Tagung am 28.5.1998 beschlossen, als der deutsche Kriegsminister Rühe mit dem Ende der NATO drohte, falls die USA nicht mitmachten. Nachzulesen im Beitrag von Heinz Loquai in der FAZ vom 25.9.1998. Die Durchsetzung des Neoliberalismus am Balkan hat Nikolaus Blome im Leitartikel der "Welt" vom 30.6.2001 offenbart "Unser Balkan - Alle Lektionen der letzten zehn Jahre kreisen um das eine Wort Macht" (wo er unter anderem auch schrieb, dass es um die Durchsetzung der politischen Vorstellungen des westens in Südosteuropa ging). Den Krieg in Bosnien hat Deutschland mit Organisation und Finanzierung massiver Waffenlieferungen an die Küsten Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas angeheizt, dokumentiert vom US-Militärmagazin "Defense Foreign Affairs Strategic Policy" vom 21.12.1992. Von dort kamen die Waffen an die Klerikalfaschisten Mladic und Kradzic und nicht von Milosevic
Wenn die Auslandskonten Putins gesperrt werden, denn werden wir in Zukunft wohl auf derartige Märchen seiner Lohnschreiber verzichten müssen. Es ist nicht schade drum.
Es wurden ohnehin auch zwei Propagandakanäle EU-weit gesperrt.
Die Auslandskonten Putins werden pro forma vom Taufpaten seiner ältesten Tochter (Sergej Roldugin) gehalten, wie im Buch "Panama Papers" von den investigativen Journalisten der SZ erwähnt wurde.
In Ergänzung, da der Beitrag ja stark auf Putin fokussiert ist, dazu:
https://youtu.be/ASXAkkHTIG0bclid=IwAR0xyQrsgOM3_RxFE3iK_XTBSVGgzEC_maYo...
Entscheider sind dennoch mittel- und langfristige geostrategische Aspekte.