Im Rahmen meiner Tätigkeit als Hebamme konnte ich die Entwicklung der Geburtshilfe während der letzten Jahre direkt miterleben. Verfolgt habe ich auch die Entwicklung des Hebammenwesens vor allem in Italien und anderen Ländern Europas. Gerade in den letzten Jahren ist eine stark zunehmende Medikalisierung und Technisierung in der Schwangerenbetreuung und die Hinwendung zu einer invasiven Form der Geburtshilfe festzustellen.
Die Kaiserschnittraten in Italien liegen 2011 bei 37!! Prozent. Wir haben damit einen historischen Höchststand erreicht und diese Zahlen befinden sich weiterhin im Steigen.
Morbidität und Mortalität und das Bedürfnis nach Sicherheit sind in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Diese Entwicklung wird zusätzlich durch die Zunahme von Haftungsklagen beeinflusst. Die GeburtshelferInnen müssen nicht mehr nur den ethischen Anforderungen an ihre Arbeit genügen, sondern sehen sich auch mit der rechtlichen Verfolgung etwaigen fehlerhaften medizinischen Handelns und der Möglichkeit von Schadenersatzansprüchen konfrontiert.
Als Hebamme, Frau und Mutter frage ich mich immer wieder:
Wie kommt aber solch eine Umdeutung eines physiologischen Prozesses zustande?
Es gibt zahlreiche Berichte von Frauen aus verschiedenen Epochen und Ländern, die ihre Kinder ohne Hilfe einfach und komplikationslos zur Welt gebracht haben. Das ist in manchen Teilen der Welt auch heute noch so. Die weltweit häufigste Variante ist jedoch das Gebären mit dem Beistand von erfahrenen Frauen. Der Beistand von männlichen Ärzten ist auch heutzutage noch nur in den reichen Industrienationen üblich. Um eine Geburt gesund zu überstehen und ein gesundes Kind zur Welt zu bringen braucht zum Glück aber nur ein geringer Prozentsatz der Frauen aufwändige medizinische Techniken.
ABER: Schwangerschaften und Geburten werden heute in den Medien meist nur dann ausführlich beschrieben, wenn Komplikationen aufgetreten sind.Vorstellungen von der Schmerzhaftigkeit und der Gefährlichkeit des Gebärens scheinen zu überwiegen. Die Einstellung zum Gebären beeinflusst aber den Geburtsverlauf. Den Schwangeren werden allen Altersgruppen seit etwa 10 Jahren sämtliche so genannte Vorsorgeuntersuchungen angeboten: Ultraschall, Nackenfaltenmessung, Organscreening. Bis ca. zur 24. Schwangerschaftswoche sollte die Mutter alle Kontrolluntersuchungen hinter sich haben. Dann hat sie eine 75%ige Sicherheit. Wenn das Kind nicht in der Norm ist, wird eine Abtreibung empfohlen. Doch was heißt Sicherheit?
Sicherheit in der Geburtshilfe wird meist gleichgesetzt mit einer Senkung der mütterlichen und kindlichen Morbidität und Mortalität. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die Zunahme des sozialen Wohlstandes, die Besserung der Ernährungslage, die Abnahme der Parität und ein höherer hygienischer Standard sehr wesentlich zur Senkung der perinatalen Mortalität und Morbidität beigetragen haben und dass diese nicht nur auf den Einsatz geburtshilflicher Technologien zurückzuführen sind. Der rasante Anstieg der Interventionsraten in den letzten 30 Jahren hat die Sicherheit von Mutter und Kind nicht weiter erhöht. Ganz im Gegenteil weisen Studien deutlich darauf hin, dass die Gefahren bei technisch programmierten Geburten zunehmen.
Von höherer Sicherheit, wie es den Frauen versprochen wird, kann nur im Falle einer echten Risikoschwangerschaft (z. B. vorgelagerte Plazenta, Nabelschnurvorfall, Beckenendlage etc.) die Rede sein. Und ausserdem gibt es neben den rechtlich festgelegten Sicherheitsstandards auch noch ein individuelles Sicherheitsempfinden jeder einzelnen Person. Eine Frau fühlt sich sicher, weil sie in einem Universitätskrankenhaus entbinden kann, umgeben von einem Ärzte - und Hebammenteam. Eine andere Frau fühlt sich hingegen sicher zu Hause in ihren 4 Wänden mit ihrer eigenen Hebamme, die sie schon seit Monaten kennt und sie professionell begleitet.
Ziel der modernen Geburtshilfe soll doch die selbstbestimmte Geburt sein, wo alle Frauen wie und wo sie ihre Kinder bekommen möchten und das geburtshilfliche System diesen Wunsch der Frauen akzeptiert und dafür Sorge trägt, dass diese Wünsche verwirklicht werden können. Frauen und Eltern wollen und sollen in ihrem Geburtserleben mitentscheiden. Dadurch werden sie in ihrer Elternkompetenz gestärkt und sie haben ein deutlich positiveres Geburtserlebnis, als wenn dieses wichtige Ereignis fremdbestimmt wird. Dafür muss es geeignete ökonomische, rechtliche, politische und medizinische Rahmenbedingungen geben, die den Frauen die Wahlmöglichkeit lassen. Um wählen zu können brauchen Frauen ausführliche Informationen, auf deren Basis sie zu ihren Entscheidungen finden können.
Aber ich vermute leider, dass ein Veränderungsprozess erst dann in Gang kommen wird, wenn die durch die medikalisierte Geburt entstehenden Mehrkosten nicht mehr von der Gemeinschaft getragen werden (können) und der ökonomische, soziale und medizinische Nutzen einer hochqualitativen Hebammenbetreuung anerkannt und in das bestehende Gesundheitssystem integriert wird.
Wann sind wir denn soweit?
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