Katalonien hat gewählt und mehrheitlich seinen Wunsch auf staatliche Eigenständigkeit bekräftigt. Das Unabhängigkeitsbündnis „Junts pel SI“ (Gemeinsam für ein JA) von Artur Mas kommt zusammen mit der separatistischen CUP auf die Mehrheit des 135 Sitze umfassenden Parlaments von Katalonien. Nun kann die Regierung Mas Verhandlungen mit Madrid in die Wege leiten, um bis 2017 die Unabhängigkeit Kataloniens durchzusetzen.
Wenn Spanien ein demokratischer Staat ist, kann er nicht auf Dauer den demokratisch ausgedrückten Willen zur Unabhängigkeit Kataloniens missachten. Spanien kann die katalanische Nation nicht gegen ihren Willen im spanischen Staat halten, sondern wird sich dazu durchringen müssen, die Verfassung so zu ändern, dass Katalonien frei abstimmen und einen eigenen Staat bilden kann.
Das Votum der Katalanen ist klar genug, aber natürlich ist es geboten, eine echte Volksabstimmung zu dieser Frage abzuhalten, die allerdings von Madrid 2014 verboten worden ist. Daraufhin hatte die Regierung Mas im November 2014 eine selbst verwaltete Volksabstimmung organisiert, an der immerhin 2,25 Millionen Wähler teilnahmen, die zu 80% für die Unabhängigkeit stimmten. Am 11. September 2015, dem katalanischen Unabhängigkeitstag, hatten wieder eine Million Katalanen auf den Straßen von Barcelona für die Unabhängigkeit demonstriert.
Katalonien versteht sich seit vielen Jahrhunderten als Kulturnation und hat den Anspruch auf Eigenstaatlichkeit in der Geschichte nie aufgegeben. Das eigentlich multinationale Spanien verweigert dagegen seinen kleineren Völkern den Status einer Nation, verweigert also echte Gleichberechtigung mit der kastilischen Mehrheitsbevölkerung. Spanien hat mit seiner Politik gegenüber Katalonien den heutigen Entscheid für die Unabhängigkeit selbst mitzuverantworten. Das 2006 von Katalonien verabschiedete neue Autonomiestatut ist 2010 vom Verfassungsgericht zu wesentlichen Teilen kassiert worden. 2012 lehnte die spanische Regierung in Madrid einen Pakt mit Barcelona zur finanziellen Besserstellung Kataloniens ab. 2014 verbot Madrid die Abhaltung einer Volksabstimmung. Auch die Umwandlung Spaniens in einen Bundesstaat ist bei den spanischen Mehrheitsparteien kein Thema.
Kataloniens demokratischer Weg zur Unabhängigkeit ist eine Reifeprüfung für die spanische Demokratie. Madrid müsste sich Großbritannien zum Vorbild nehmen, das die Schotten 2014 frei über ihre Souveränität entscheiden ließ. Demokratie in Europa, die als Grundwert aller EU-Mitgliedsländer im Unionsvertrag festgeschrieben ist, muss sich auch hier konsequent zeigen. Demokratie kann nicht einem Verfassungszwang untergeordnet werden, den die katalanische Gesellschaft heute höchstwahrscheinlich mehrheitlich nicht mehr akzeptiert. Vielmehr ist Spanien jetzt aufgerufen, demokratische Mehrheitsentscheidungen zu achten und den Weg zur Eigenstaatlichkeit Kataloniens zu ebnen. Mit einem Nachbarstaat Katalonien wird Spanien auf der iberischen Halbinsel genau verflochten bleiben wie bisher, genauso gut zusammenarbeiten wie mit Portugal, als gleichrangige Mitglieder der EU. Gerade der politische (aber nicht der rechtliche) Rahmen der EU erlaubt es heute, einige historisch obsolete Abgrenzungen so zu ändern, als würde man innerhalb Italiens eine neue Region schaffen.
In eine ganz andere Richtung geht Francescos Palermos Stellungnahme in der ZETT vom Sonntag, 27. September zu Katalonien: „Diese Entwicklung steht im Gegensatz zur Grundtendenz in Europa. Die Wirtschafts- und Flüchtlingskrise zeigen, dass Staatsgrenzen wieder eine größere Rolle spielen. Die Zeit für Regionalisierungstendenzen in der EU ist vorbei.“ Ginge es nach Palermo, müsste sich die katalanische Nation wohl an Renzis Zentralisierungstendenz orientieren und somit eher auf Autonomie verzichten als solche dazugewinnen wollen, geschweige denn die Unabhängigkeit. Wenn irgendein Politiker in einem anderen Land eine „Tendenz“ ausmacht, hätten sich – laut Palermo – wohl Millionen Wähler auch daran zu halten und sich nicht zu erfrechen, gegen die "europäische Grundtendenz" zu votieren. Dabei wäre Kataloniens Wirtschaft im Übrigen weit weniger von der Eurokrise getroffen und weniger verschuldet, wenn es seine eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik hätte. Ein eigener Staat, Mitglied der EU und des Euroraums, macht es durchaus krisensicherer. Besonders widersprüchlicher ist aber Palermos Aussage: „Die Flüchtlingskrise zeigt, dass Staatsgrenzen wieder eine größere Rolle spielen werden.“ Zum ersten ist die Flüchtlingskrise ohne echte EU-Asylpolitik nicht zu meistern. Zum zweiten ist Palermos Feststellung doch ein Argument für einen Staat Katalonien, der gleichrangig mit anderen EU-Ländern seine Flüchtlingsaufnahme selbst gestalten kann. Etwas mehr Respekt vor einer demokratischen Willensäußerung von Millionen Katalanen könnte man sich auch von Senator Palermo erwarten.
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