Verehrter Herr Dr. Kollmann,
es war mir eine große Ehre, als deutscher (bayerischer) Ausländer am vergangenen Sonntag erstmals an der Bozner Bürgermeisterwahl teilnehmen zu dürfen. Das Motto, womit Sie in den Wahlkampf gezogen sind, nämlich dass Bozen „deutscher“ werde müsse, könnte nun natürlich vermuten lassen, dass nun gerade ich -als Ihr potenzieller Wähler- gut in Frage kommen könnte, aber da muss ich Sie leider enttäuschen. Es war mir nämlich eine ebenso große Ehre, stattdessen eine italienische Partei zu wählen, in der die beiden Landessprachen Italienisch und Deutsch wie selbstverständlich gleichberechtigt nebeneinander zur Anwendung gelangen können.
Ich schreibe Ihnen diesen Offenen Brief, weil ich Sie und Ihre Parteikollegen der Süd-Tiroler Freiheit mit einem konstruktiven Gedanken konfrontieren möchte, der aber möglicherweise anstrengend für Sie sein könnte:
Mit Ihrer patriotischen und spaltenden Sprachideologie schaden Sie den Südtiroler Kindern immens, denn diese beeinträchtigt sie in ihrer sprachlichen Entwicklung.
Warum das so ist? Machen wir doch hierzu einmal folgendes Gedankenexperiment: Alle in Südtirol Neugeborenen, egal welcher Ethnie, wüchsen bis zum Alter von drei Jahren in ihrer Familie auf und lernten zunächst 1) ihre jeweilige Muttersprache. Also: das Südtiroler Kind in Schlanders lernte den Südtiroler Dialekt, das ladinische Kind in Wolkenstein lernte Ladinisch, das sardische Kind aus Cagliari lernte Sardisch und das Migrantenkind aus -von mir aus- Syrien lernte die arabische Sprache. Im Alter von drei Jahren kämen diese Kinder dann in einen zweisprachigen Kindergarten, in dem sie 2) die deutsche Hochsprache und 3) die italienische Hochsprache gleichberechtigt nebeneinander erlernen würden, die sie dann bis zum Alter von sechs Jahren ganz passabel und mit dem Ende der Grundschule dann annähernd fließend beherrschen würden.
D. h. alle vier Kinder wären im Alter von elf Jahren nahezu perfekt drei(!)-sprachig und könnten dann eine wirkliche Fremdsprache, nämlich Englisch, Latein, Französisch, Griechisch etc. erlernen. Das wäre dann auch das erste Mal für die Schüler mit einer tatsächlichen Anstrengung verbunden, denn bislang haben unsere vier Beispielkinder die anderen drei Sprachen ja eher spielerisch -sozusagen nebenbei- erlernt.
Mit Beendigung der Schulzeit hätten unsere Kinder dann eine linguistische Kompetenz, die im mitteleuropäischen Raum herausragend -wenn nicht sogar einzigartig- wäre, denn wer von unseren Nachbarländern kann schon mit einer nahezu flächendeckenden Vier- oder Fünfsprachigkeit punkten? Südtirol könnte sich in dieser Disziplin eine absolute Ausnahmestellung erarbeiten und es wäre darüber hinaus noch ein erheblich entspannteres Zusammenleben als bislang ermöglicht, denn endlich könnten sich die unterschiedlichen Volksgruppen in Südtirol einmal untereinander problemlos verständigen!
Eine wunderschöne Vision, oder? Aber warum ist es eigentlich bislang noch nicht so?
Das ist unter anderem -nicht nur, aber auch- die Schuld der Süd-Tiroler Freiheit und Ihnen, Hr. Dr. Kollmann! "Der Italiener“ wird die deutsche Sprache nicht besser erlernen können, wenn er weiterhin kaum jemanden findet, mit dem er sich auf Hochdeutsch unterhalten kann. Und "der Südtiroler“ wird Hochdeutsch niemals anständig lernen, solange Leute wie Sie ihm einreden, dass das, was er spricht, ja bereits deutsch sei, obwohl es das eben eigentlich nicht ist.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich finde den Südtiroler Dialekt wirklich wunderschön und mag ihn sehr, sehr gerne, denn er ist ja auch eine südbairische Mundart. Aber die Vernachlässigung der deutschen Hochsprache rächt sich spätestens dann, wenn Herr und Frau Südtiroler bei der staatlichen Zweisprachigkeitsprüfung nicht nur im Italienischen durchfallen, sondern leider auch viel zu oft im Deutschen.
Als wirklicher Patriot müssten Sie ihren Leuten eigentlich diese unangenehme Wahrheit offen ins Gesicht sagen. Stattdessen veranstalten Sie einen -in meinen Augen- völlig albernen „deutschen“ Wahlkampf und sind dann danach beleidigt, wenn noch nicht mal richtige Deutsche (wie z. B. ich) Sie wählen.
Ich habe im Frühjahr einen Vortrag von Ihnen zum Thema „Toponomastik“ im Bozner Kolpinghaus besucht, der mir sehr gut gefallen hat und ich konnte mich mit den allermeisten Gedankenansätzen von Ihnen, sofern es um die grundsätzliche Sinnhaftigkeit bzw. die linguistische Präzision der Toponomastik ging, fast hundertprozentig identifizieren. Leider waren Ihre Stimmbänder an diesem Abend krankheitsbedingt kaum einsatzbereit, denn sonst hätte ich gerne noch folgende zwei Fragen persönlich mit Ihnen erörtert:
„Wäre es nicht erheblich anständiger und zielführender, beim Thema „mangelnde Zweisprachigkeit“ zunächst vor der eigenen Türe zu kehren, anstatt immer wieder in die bequeme Opferrolle zu verfallen? Wie sollen die hier lebenden Italiener und Migranten denn eigentlich Hochdeutsch vertiefen, wenn sie so gut wie niemanden finden, mit dem sie überhaupt Hochdeutsch sprechen können?“
Ich freue mich auf Ihre geschätzte Antwort und darf Sie und Ihre Gesinnungsgenossen darüber hinaus noch höflichst ersuchen, von einer weiteren Herabsetzung der nichtdeutschen Volksgruppen abzusehen und stattdessen die Südtiroler dazu zu bewegen, endlich ordentlich Deutsch zu lernen, damit diese mit den anderen hochdeutsch sprechenden In- und Ausländern -im Sinne der Völkerverständigung- vernünftig kommunizieren können.
Mit freundlichen Grüßen
Harry Dierstein
Bozen
Kommentar schreiben
Zum Kommentieren bitte einloggen!Kommentare
Con riferimento a:Ihren Vorschlag zum Spracherwerb der Eltern an der Betreuungsstäte der Kinder habe ich in dieser Form noch nicht gehört und finde ihn überaus interessant. Vielen Dank dafür! Das könnte in der Tat eine praktikable Möglichkeit sein, den Fremdsprachenerwerb auch den Eltern schmackhaft zu machen. -
20 Jahre lang unterrichtete ich Italienisch in der deutschsprachigen Schule (vor allem in den Tälern!) und Englisch als Fremdsprache in der italienischen Stadtschule, wobei ich ständig Fortbildungskurse besuchte und die erforderlichen Prüfungen für den Übergang von der deutschen zur italienischen Schule ablegte. Die Eltern meiner Schüler hatten im Allgemeinen nicht die Zeit, die Energie, die Fähigkeit oder die Verfügbarkeit, einen Sprachkurs zu besuchen. Ich lese, schreibe, höre und spreche gerne Deutsch. In Südtirol finde ich kaum Gelegenheiten, diese Sprache zu sprechen, und zwar aus den von Herrn Dierstein klar genannten Gründen. Ich stelle fest, dass Standarddeutsch nur widerwillig gesprochen wird, so dass ich mich damit begnüge, meinen Gesprächspartner italienisch sprechen zu lassen, wie andere Italiener, die wie ich gerne Standarddeutsch sprechen würden. Zu anderen Zeiten finde ich, dass die Kommunikation schwierig wird, da sowohl das Deutsche als auch das Italienische dem Gesprächspartner Schwierigkeiten in Bezug auf den Ausdruck bereitet.
Was ich einfach nicht verstehen kann, Eine syrische Familie, kenne ich persönlich, spricht nach einigen Jahren in der Schweiz gutes Englisch, passables Deutsch, und gutes Schwyzerdütsch? Und wieso geht das bei uns nicht, wieso bei Ihnen nicht? Oder vielleicht weiss ich es doch, die syrische Familie wollte sich in der Schweiz integrieren, Sie hier anscheinend nicht.
Zitat: „Ich lese, schreibe, höre und spreche gerne Deutsch. In Südtirol finde ich kaum Gelegenheiten, diese Sprache zu sprechen...“:
Wenn dem so ist, wo in Italien (Sizilien, Sardinien, Süditalien, Bergamo, Trentino...) finden Sie dann die Möglichkeit, Italienisch („Standartditalienisch“) zu sprechen? Kaum irgendwo in Italien also könn(t)en Sie arbeiten oder am Leben teilnehmen...
.
Auch ich habe so ein Beispiel wie oben: eine ungarische Kellnerin, warum kann diese nach 3 Jahren in Südtirol gutes Deutsch und Dialekt und hat kein Problem damit...?
Zitat: "Wenn dem so ist, wo in Italien (Sizilien, Sardinien, Süditalien, Bergamo, Trentino...) finden Sie dann die Möglichkeit, Italienisch („Standartditalienisch“) zu sprechen?"
In Italien kann ich überall Standarditalienisch sprechen, trotz der zahlreichen und für mich manchmal unverständlichen italienischen Dialekte.
Zitat: "Wenn dem so ist, wo in Italien (Sizilien, Sardinien, Süditalien, Bergamo, Trentino...) finden Sie dann die Möglichkeit, Italienisch („Standartditalienisch“) zu sprechen?"
In Italien kann ich überall Standarditalienisch sprechen, trotz der zahlreichen und für mich manchmal unverständlichen italienischen Dialekte.
Ich bitte Sie!
Sie wollen hier wirklich behaupten, die italienischsprachigen Bürger in Italien würden in allen Tälern und Dörfern und auf allen Inseln mit Ihnen „Standarditalienisch“ sprechen, die deutschsprachigen italienischen Bürger würden „Standard-Deutsch“ nicht sprechen:
Sie begeben sich auf eine sehr gefährliche nationalistische und sprachlich diskriminierende Ebene, auf welcher Sie Ethnien qualitativ in „bessere“ und „schlechtere“ einteilen... unerhört, dieser Ansatz, so meine ich.
.
oder:
Zitat: „In Italien kann ich überall Standarditalienisch sprechen“:
ich auch; ich kann aber auch überall in Südtirol „Standarddeutsch“ sprechen - verraten Sie uns doch, wer gerade Sie daran hindert?
Deswegen, denn ich stelle fest, dass Standarddeutsch nur widerwillig gesprochen wird, so dass ich mich damit begnüge, meinen Gesprächspartner italienisch sprechen zu lassen, wie andere Italiener, die wie ich gerne Standarddeutsch sprechen würden. Zu anderen Zeiten finde ich, dass die Kommunikation schwierig wird, da sowohl das Deutsche als auch das Italienische dem Gesprächspartner Schwierigkeiten in Bezug auf den Ausdruck bereitet. Così come per chiunque abituato a parlare sempre o quasi in dialetto.
Die Arroganz in dieser Aussage sticht sofort ins Auge:
„dass die Kommunikation schwierig wird, da sowohl das Deutsche als auch das Italienische dem Gesprächspartner Schwierigkeiten in Bezug auf den Ausdruck bereitet“.
.
... jaja die blöden deutschen Älpler und - ceterum censeo - „hinc ceteros excoluimus lingua legibus artibus“...
.
Manches bleibt sich über Jahrzehnte gleich...