Man wähnt sich in einer Demokratie mit lauter mündigen Staatsbürgern, doch wenn das Volk nicht nach dem eigenen Gusto entscheidet, möchte man ihm doch gleich wieder das Stimmrecht entziehen. Nur einige Beispiele dafür, wie sich Menschen der „Elite“ Sorgen darüber machen, dass das gemeine Stimmvolk zu viel Rechte bekommen und damit zu viel Unheil anrichten könnte.
Da mokiert sich der Herausgeber der FF darüber, dass die Südtiroler beim Flughafenreferendum dagegen stimmen würden, damit Südtirol bleibt, wie es ist „so wie ich die Südtiroler Bäuche kenne“ (Zimmermann). Der Mann hatte schlicht vergessen, dass zumindest die Bozner zwei Monate vorher für das Benko-Projekt gestimmt hatten, also für den auch von Zimmermann erwünschten Modernisierungsschub für Bozen, mit dem Kopf versteht sich. Die Südtiroler sind demnach zwischen Bauch und Kopf ganz schön hin- und hergerissen. Als erschwerender Umstand für Zimmermann kommt dabei ins Spiel, dass er Schweizer ist: könnte er seinen abstimmungsgewohnten Landsleuten unterstellen, dass sie aus dem Bauch heraus votieren, wenn ihm das Ergebnis nicht passt, dass sie aber mit Kopf stimmen, wenn das Ergebnis passt?
In einer Runde von Kulturschaffenden auf RAI Südtirol (25.6.2016) tritt Maxi Obexer für die Schriftsteller auf und möchte Volksabstimmungen über wichtige Fragen wie die EU-Mitgliedschaft lieber für tabu erklären. Ich habe diese Autorin noch nie darüber klagen hören, dass die italienische Wählerschaft besser nicht über Scheidung, Abtreibung, Wahlgesetze und Atomkraft abstimmen solle, wichtige Themen, die aus ihrer Sicht dann auch die Fassungskraft des Durchschnittsbürgers übersteigen müssen. Wieder dasselbe Muster: entscheidet das Volk „richtig“, also so wie man selbst, alles klar. Wenn nicht, muss an diesem Instrument der Volksabstimmung etwas faul sein.
So kann es schon gar nicht überraschen, dass ein Redakteur eines Südtiroler Boulevardblatts, das sich vermutlich nur an die aufgeklärte Elite wendet, ernsthaft in einem RAI-Mittagsmagazin Spezial (30.6.16) dafür plädiert, für solche Themen wie die EU-Mitgliedschaft ein 75%-Quorum festzulegen (tatsächlich gingen 72% hin). Wären 76% hingegangen, hätte dieser Redakteur vermutlich ein 80%-Quorum vorgeschlagen. Ich habe in dieser Zeitung nie von solchen Quorumsforderungen gelesen für die zahlreichen Volksabstimmungen, die einen EU-Beitritt des jeweiligen Landes herbeigeführt haben. Der britischen Wählerschaft als Südtiroler das Recht auf freie Volksabstimmung über wichtige Fragen abzusprechen, ist reichlich kurios, denn in Demokratiefragen sind gerade die Engländer schon etwas länger unterwegs als wir.
Gerhard Mumelter versteigt sich in derselben Sendung zur Aussage, dass beim BREXIT die Alten über die Jungen entschieden hätten, weil die Jungen wohl allesamt für die EU seien. Laut Umfragen waren Jüngere eher für das Remain, doch welche Analyse der Abstimmung nach Altersgruppen hat er zur Hand? Zwischen den Zeilen stellt Mumelter eher diese Frage: ab welchem Alter muss den Staatsbürgern eigentlich das Wahl- und Abstimmungsrecht entzogen werden? Gehörst du auch schon zu dieser Altersgruppe, lieber Gerhard, die morgen nicht mehr abstimmen darf, weil es um „die Zukunft des Landes“ geht?
An dieser Stelle könnte ich fortfahren mit anderen Kommentatoren, die noch nie ein gutes Haar an Volksabstimmungen gelassen haben, und zwar immer wieder nach diesem Muster: wenn einem das Ergebnis passt, alles klar, gut gemacht Volk, hast vernünftig mit dem Kopf entschieden. Wenn einem das Ergebnis nicht passt, wird der Spiegel (die Volksabstimmung) zertrümmert, der die aktuelle Realität (die Positionen im Volk) gezeigt hat. Die Bürger werden für unfähig erklärt, komplexere Sachverhalte zu begreifen. Oder wie Lucio Giudiceandrea dies in jener Sendung (RAI Südtirol, 30.6.2016) formulierte: Das Volk hat beim BREXIT so mit dem Bauch abgestimmt, wie es in der Eisdiele zwischen Erdbeere und Vanille entscheidet. Dabei macht dieser RAI-Redakteur absolut gute Arbeit und die RAI hat höchste Einschaltquoten: sind die Menschen denn während seiner Sendungen immer alle in der Eisdiele?
Notabene: Obwohl der BREXIT für die EU auch Vorteile birgt, bedaure ich den Ausgang dieser Abstimmung, doch die Briten müssen wissen, was für sie besser ist, nicht ich. Ein Dank einem Kollegen aus Thüringen, der diese Frage noch besser auf den Punkt bringt, und zwar hier.
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