Verschuldung: auf den ersten Blick ein ökonomisches Thema. Und in der Tat ist es die Nationalökonomie, welche die Deutungshoheit zu diesem Thema beansprucht. Das war auf der diesjährigen Spring School an der Uni Bozen anders. Da beschäftigte man sich vor allem aus philosophischer und anthropologischer Sicht mit dem Problem. Professor Ralf Lüfter (Uni Bozen), Professor Andreas Oberprantacher (Uni Innsbruck) und Professorin Silke Meyer (Uni Innsbruck) haben sich gemeinsam mit den Studenten mit verschiedenen Fragen auseinandergesetzt – Fragen, die zwar eng mit der Realität der Verschuldung verknüpft sind, aber in der öffentlichen Diskussion meist ausgespart werden, vor allem eben unter Ökonomen. Es waren Fragen wie diese: Wie beeinflussen Schulden das Leben und vor allem das Selbstgefühl des Menschen, der sie hat? Übt unsere Gesellschaft den richtigen Umgang mit dem Thema Schulden? Wann sprechen wir noch von Schulden und wann bereits von Schuld?
Nach rein ökonomischer Denkweise ist es vergleichsweise leicht, zu verstehen, was es damit auf sich hat, wenn sich ein wirtschaftlicher Akteur Kapital leiht, um es nach einer bestimmten Zeitspanne (mit Zinsen) wieder zurückzuzahlen: Es ist ein Prozess, der Kapitalisten und Unternehmer in einem Wechselspiel verbindet, das Effizienz und Wachstum befördert. Da nur das Effiziente auf dem Markt überlebt und dazu führt, dass der Unternehmer sein Geliehenes zurückzahlen kann, werden die homines oeconomici stets darauf bedacht sein, nur auf effizienteste Weise zu investieren: Und die Wirtschaft funktioniert. So zumindest die Theorie. Es gibt aber auch solche, die scheitern. Der Mensch kann nicht, wie in der Theorie, ständig rational handeln. Ihm fehlen auch schlicht die Mittel dazu: vollständige, allumfassende Informationen über Gegenwart und Zukunft.
Was ist also mit jenen, die auf der Strecke bleiben und unter ihrer Schuldenlast zusammenbrechen? Die Frage wird umso interessanter, wenn man bedenkt, dass unsere Gesellschaft durch das aktuelle Geldsystem bereits vollkommen auf Verschuldung aufgebaut ist. Das Bargeld in Umlauf ist nämlich nichts anderes als von der Zentralbank an andere Banken und Staaten geliehenes Geld, das nach einem bestimmten Zeitraum samt Zinsen wieder zurückgezahlt werden muss. Das bedeutet in anderen Worten, dass jedem monetären Guthaben eine Schuld entspricht. Wären alle Schulden restlos getilgt, gäbe es auch keine Guthaben mehr. Das Wirtschaftssystem würde kollabieren.
Obwohl also Schulden für das Funktionieren unserer Gesellschaft unabdingbar sind, gleicht es heute beinahe einem Verbrechen, seine Schulden nicht zurückzahlen zu können. Verschuldet zu sein, ist nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine moralische Belastung. Das war nicht immer so, sagt Prof. Meyer. Erst im Kapitalismus sei die Tilgung von Schulden auch zu einer großen moralischen Verpflichtung geworden. Historische Beispiele von Schuldenschnitten aus der Antike bis hin zum Londoner Schuldenabkommen 1953 dienen als Belege dafür. Damit beruft sich Prof. Meyer auf den Sozialanthropologen David Graeber und sein Buch „Schulden. Die ersten 5.000 Jahre.“ In der Tat geht man heute anders mit Schulden um, bestätigt auch Prof. Oberprantacher: Es sei kein Zufall, dass die hochverschuldeten Südstaaten im Zuge der Eurokrise herabwertend als PIGS (steht für: Portugal, Italien, Griechenland, Spanien) bezeichnet wurden. Dem Akronym liegt eine typisch neoliberale Einstellung zugrunde, die jegliches Scheitern auf Faulheit, Kurzsichtigkeit und Inkompetenz oder gar Unaufrichtigkeit zurückführt, also letztlich auf ein Selber-Schuld-sein. Und so entsteht die enge (nicht nur morphologische, sondern auch semantische) Verbindung zwischen Verschuldung und Schuld, von der auch Prof. Lüfter spricht.
Der moralische Mangel, der in der Regel demjenigen, der seine Schulden nicht mehr bedienen kann, direkt oder indirekt unterstellt wird, kann noch auf andere Weise erklärt werden. Prof. Oberprantacher erinnert in diesem Zusammenhang an Walter Benjamin, der behauptete, die Wirtschaft habe in der westlichen Welt in vielerlei Hinsicht den Stellenwert eingenommen, den früher die Religion in der Gesellschaft hatte: Stimmt man dem zu, dann ist demjenigen, der seine Schulden nicht mehr zurückzahlen kann, die Rolle des Sünders zuzuordnen. Dadurch erhält jeder Schuldenschnitt und jede Insolvenz automatisch jene moralische Dimension, die beobachtet wurde.
Noch krasser als bei uns basiert das Wirtschaftssystem in den USA auf Schulden und auf dem „korrekten“ Umgang mit ihnen. Das fängt schon beim Bildungssystem an. 30.000 Dollar im Jahr muss ein Student im Schnitt aufbringen, um an einer anerkannten Universität studieren zu können. Die meisten müssen enorme Kredite aufnehmen, um diese Gebührenlast stemmen zu können. Man trägt sie jedoch als Schuldenlast weiter, manchmal jahrzehntelang, in einigen Fällen sogar lebenslang. Dabei ist gerade auf dem US-Markt die Kreditwürdigkeit eine fundamentale Eigenschaft, nicht nur bei Unternehmen, sondern auch bei den einzelnen Konsumenten. Das führe laut Prof. Oberprantacher rasch dazu, dass ein Mensch nur noch auf seine Kreditfähigkeit abgeklopft und darauf reduziert wird; gleichzeitig wird er all seiner anderen Seinsmöglichkeiten beraubt. Ein Versagen in puncto Kreditwürdigkeit wird dann mit einem Versagen auf der ganzen Linie gleichgestellt. Was daraus entsteht, ist the indebted Self, das „verschuldete Selbst“ – ein Begriff, der bezeichnet, wie sehr die Verschuldung die gesamte Selbstwahrnehmung eines Menschen beeinflussen kann.
Der psychologische Mechanismus, der dahinter steckt, ist denkbar einfach: Wenn ein Versagen auf dem Markt gleichbedeutend mit moralischem Versagen wird, dann ist es nicht nur das wirtschaftliche Handeln des Menschen, das schlecht war, sondern der Mensch nimmt sich dann schnell als gesamtes Individuum als „schlecht“ wahr. An der Wurzel des Problems liegen nicht wirklich die Schulden selbst, sondern die Art, wie die Gesellschaft in der freien Marktwirtschaft damit umgeht. Der Gesellschaft in diesem Zusammenhang eine gewisse Verantwortung zuzuschreiben, klingt zunächst wieder sehr abstrakt. Aber wie konkret die Angelegenheit ist, zeigt sich bereits, wenn man einen Blick darauf wirft, wie die Gesetze formuliert sind, die den Gegenstand betreffen. Prof Meyer macht beispielsweise auf die österreichische Insolvenzordnung aufmerksam. Hier wird ausdrücklich davon gesprochen, wie sich der „redliche [!] Schuldner“ zu verhalten hat.
Weiterführende Literatur:
Maurizio Lazzarato: Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben. Berlin 2012.
An der Uni Innsbruck gibt es in diesem Semester außerdem eine Ringvorlesung zum Schulden-Komplex, in deren Rahmen am 21 Juni auch Maurizio Lazzarato einen Vortrag halten wird.
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