Es kreuzte gestern via NZZ ein Text meine Wege, den ich eigentlich lieber nicht hätte lesen müssen. Einerseits. Andererseits ist es mit solchen Dingen und generell aber wohl so, wie Goethe einst sagte, nämlich: „Man sieht nur, was man weiß“, oder, nach meiner freien Interpretation: Achtsamkeit/Aufmerksamkeit entsteht erst, wenn Bewusstsein besteht. Insofern werde ich den Text also jetzt nicht, wie ich es am liebsten täte, in den tiefen Falten meines Bewusstseins versenken, sondern ihn kurz zur Sprache bringen. Vielleicht hilft’s ja, so oder anders.
Der Text also berichtete von „rape culture“, zu deutsch: Vergewaltigungs-Kultur, jawoll, und darin stehen Sätze wie dieser:
„(…) ein Anspruchsdenken, in dem Frauen als rechtmäßige Beute betrachtet werden“,
oder Textpassagen wie diese:
„Drei der insgesamt vier Beteiligten hatten die Gruppenvergewaltigung (…) mit ihren Handys gefilmt. (…) Einer der Täter, der mit dem Mädchen zuvor eine kurze Beziehung gehabt hatte, gab die Anweisungen, ein anderer hat anschließend auf das Opfer uriniert. (…) Es gab einige Zeugen. Hat einer eingegriffen? Nein. Wurde das Verbrechen von einem von ihnen gemeldet? Nein.“
Nun springt vermutlich im Versuch der Zuordnung dieses abscheulichen Geschehens die Fantasie des Lesers und der Leserin beispielsweise nach Indien, wo – wie wir alle wissen - (Gruppen-)Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind, oder in den „Gottesstaat“ der IS, oder einen anderen Terror-Staat, wo Frauen oft weniger Achtung erfahren als manche Tiere, oder vielleicht in ein Kriegsgebiet – Stichwort „sexualisierte Kriegsgewalt“ -, aber jedenfalls mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an irgendeinen, räumlich und kulturell Lichtjahre von uns - zivilisierten! Menschen -, entfernten, düsteren Ort. Leider falsch. Und zwar richtig falsch.
Denn diese und ähnliche Verbrechen spiel(t)en sich tagtäglich in den Vereinigten Staaten ab, der höchst entwickelten Weltmacht, Leadernation und Leaderkultur, und dort nicht etwa in den verarmten und verwahrlosten Vororten verwahrloster und verarmter Städte. Nein, sie geschahen – und geschehen – an Amerikas Hochschulen, insbesondere an den Elite-Hochschulen. Man lasse sich das einmal langsam und gründlich durch die Gehirnwindungen laufen.
Jede fünfte Studentin wird im Laufe ihres Studentinnenlebens einmal Opfer eines sexualisierten Übergriffes, aber nur fünf Prozent dieser Übergriffe werden bei der Polizei gemeldet. Warum das so ist, und übrigens, der ganze Text kann hier nachgelesen werden.
Es ist, aus meiner Sicht, mehr als nur verstörend, dass Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe überhaupt passieren, im Jahre 2015 und bei vermutlich größtmöglicher sexueller Freiheit, es ist sogar einer entwickelten und zivilisierten Kultur ganz und gar unwürdig. Dass überdies diese Gewalt größtenteils ungesühnt bleibt, auch diese Tatsache (!) spricht keineswegs für die Entwicklung und/oder Güte unserer Gesellschaft, von Gleichstellung und Gleichberechtigung der Geschlechter gar nicht zu reden. Aber es besteht doch – vielleicht, wenn alles gut geht – ein kleiner Grund, Hoffnung zu schöpfen. Denn es ist nicht so, wie man manchmal meinen möchte, dass überhaupt kein Umdenken – oder besser: Kulturwandel - stattfinden würde. Ein bisschen was tut sich, hin und wieder, hie und da: Die Verbrecher aus dem Bericht wie oben wurden zwar von den Zeugen nicht von ihrem Tun abgehalten, und von diesen auch nicht angezeigt – aber die Universität selbst hat den Vorfall zur Anzeige gebracht, was keineswegs die Norm und also umso bemerkenswerter ist. Der Präsident der US und erklärte Feminist Barack Obama höchstselbst hat neulich seine traditionelle Rede zu den Grammy Awards „zweckentfremdet“, um über Vergewaltigungen und Gewalt gegen Frauen zu sprechen, und dazu aufzurufen, „zusammen unsere Kultur zum Besseren (zu) verändern.“ Barack Obama ist auch Testimonial in der Kampagne „It’s on us“ (www.itsonus.org), die sich nicht - wie sonst bei Gewalt gegen Frauen (ja, nicht nur) hierzulande eher üblich – an die Opfer wendet, und darauf, wie diese sich schützen können. Sie ist vielmehr überwiegend Täter-fokussiert und darauf, wie diese an ihrem Tun gehindert werden können. Die Verantwortung über das eigene Heil-Sein oder Heil-Bleiben wird also mithin zum größten Teil von der Frau/dem Opfer fort genommen und dorthin verlagert, wo sie hingehört, nämlich zum (potentiellen) Vergewaltiger/Täter, und zur Gesellschaft, die wegschaut.
Und hierzulande? Können wir, Frauen und Männer, wohl noch lange davon träumen, dass unser Landeshauptmann oder eine andere herausragende Persönlichkeit z. B. die Verleihung des Landesverdienstkreuzes oder ein anderes, medien- und öffentlichkeitswirksames Ereignis zum Anlass nimmt, um laut und unmissverständlich gegen Gewalt (weitaus überwiegend gegen Frauen) anzusprechen, und Stellung zu beziehen. Oder eine Kampagne wie „It’s on us“ finanziert. Oder, warum nicht, ein Land Südtirol auf den Weg bringt, in dem es keine „Frauenparkplätze“ gibt (geben muss), und keine "Sicherheitstipps für Gitschn", dafür aber groß angelegte Sensibilisierungskampagnen, flächendeckend plakatierte (Warn-)Hinweise, dass Frauen keine Beute sind, und Gewalt nicht (mehr) Teil unserer Kultur.
Denn was – beispielsweise - für Motorrad- und Autofahrer recht ist, das sollte doch für die „andere“ Hälfte der Gesellschaft (ohne die ja übrigens keine Gesellschaft lebensfähig ist) nur billig sein.
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