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Neue Tendenzen im Gesundheitswesen

Der Patient im Mittelpunkt?

Die Glaubwürdigkeit der Gesundheits-Professionals steckt nach wie vor in der Krise, wie auch die Finanzierbarkeit des öffentlichen Gesundheitswesens. Wie können medizinisches Fachwissen und die Erfahrung einer Krankheit zusammenfinden? In welcher Beziehung sollen wissenschaftliche Erkenntnisse und individuelles Wohlbefinden stehen? Fachmedizin und Allgemeinmedizin? Bedarf an Gesundheit und Angebot von Leistungen? Heilung (cure) und Betreuung (care)? Wie sinnvoll ist in diesem Szenario noch die nach wie vor eifrig gepredigte "Patientenzentrierung"?
Un contributo della community di Frank Blumtritt06.01.2014
Ritratto di Frank Blumtritt

Seit mindestens drei Jahrzehnten wird es gelehrt, gepredigt, theorisiert: "Der Patient im Mittelpunkt". Vor allem die Krankenpflege arbeitet seit je her mit dieser Vision, die aber auch kein Arzt in Frage zu stellen wagen würde, sieht doch der Eid des Hypokrates vor, die Interessen der Patienten vor alles Andere zu stellen. Und welcher Patient wäre nicht mit dieser Metapher einverstanden, "im Mittelpunkt" stehen zu dürfen, wenn seine Gesundheit auf dem Spiel steht? Und ist die "Kundenzentriertheit" nicht in allen öffentlichen und privaten Dienstleistungsbetrieben ein Muss? Ausgegangen wird hier von der, wohl auch durch den Wirtschaftsboom des letzten Jahrhunderts und das Streben nach Individualität inspirierten Hypothese, dass jeder Mensch im Grunde gerne im Mittelpunkt stehen möchte. Ob er damit allerdings auch automatisch gut bedient ist, sei zur Diskussion gestellt.

Aber zurück in die Sanität: Das Idealbild des "Patienten im Mittelpunkt" ist bildlich der, von einem Heer verschiedener "professionals" umgebene und bediente, Kranke (oder vermeintlich Kranke), womöglich im Bett liegend, um welches sich kreisförmig der Tross der ärztlichen Visite schart. Wer kennt dieses Bild nicht aus eigener Erfahrung, oder aus Film und Fernsehen? Die Idee der patient-centered medicine entstand in den Siebzigern als Rebellion gegen die "Halbgötter in Weiß" und hatte somit ihre geschichtliche Berechtigung. Aber wie in jeder Rebellion steckt auch hier die Gefahr der Polarisierung und Verhärtung zweier Fronten, die durchaus nebeneinander weiterbestehen können, ohne das Grundproblem wirklich gelöst zu haben. Tatsächlich ist "im Mittelpunkt stehen" nicht a priori positiv. Im Mittelpunkt stehen der Kaiser, aber auch der Hofnarr, oder der zum Tode Verurteilte. Sie alle haben gemeinsam, unter dem wertenden Blick der Umstehenden, oder den allgemeinen Erwartungen der Umwelt, nicht mehr tun zu können was sie wollen. Im Mittelpunkt stehen beinhaltet immer auch eine Form der Entmündigung. Ob tatsächlich den Bedürfnissen unseres "Patienten im Mittelpunkt" entsprochen wird, oder vielmehr jenen derer, die ihn "umzingeln"?

Aus diesen Überlegungen heraus entstand der Gedanke der "therapeutischen Beziehung", die den Patienten, bildlich gesehen, "aus der Mitte nehmen" und "an die Seite" der Therapeuten stellen soll. Weg von der paternalistischen Betreuung und hin zur partnerschaftlichen, therapeutischen, sozialen und ökonomischen Beziehung, in welcher beide - Health Professional und Patient - mit gleichen Rechten und Pflichten ihren Teil der Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen übernehmen sollen. Im Zentrum soll jedenfalls Niemand mehr stehen, denn gefordert ist das Miteinander. Die Vision der "therapeutischen Beziehung" sieht vor, dass Patienten aktiv in die Entscheidungsfindung für angemessene Leistungen mit einbezogen werden. Begriffe wie Angemessenheit, Wirksamkeit und Sicherheit müssen in das Vokabular der Patientengespräche Eingang finden. "Wir müssen auf die Erwartungen der Bürger an eine mythische Medizin einwirken: das ist das dringendste und wirksamste was wir tun können, wenn wir uns weiterhin ein öffentliches Gesundheitssystem leisten können wollen" (Richard Smith, BMJ 1999; 318:209-210)

Ob dieser Schritt gelingen wird, wird jedoch sehr stark davon abhängen, wie unser Gesundheitssystem den Bürger möchte: als "Kunde" oder "Verbraucher"? Dann werden Dinge eine Rolle spielen wie: Kundenzufriedenheit, Gesundheitsshopping, reiche Auswahl an Alternativbehandlungen, leichter Zugang zu Leistungen, Reklame, künstliche Schaffung und Befriedigung von neuen Bedürfnissen, Marketing, Branding, Grading, usw... Wunderbar in der Privatwirtschaft, aber kaum denkbar in unserem Gesundheitssystem, wo selten direkt bezahlt werden muss und dem Bürger jegliche Motivation fehlt, angemessene Leistungen zu fordern, oder sich über deren Kosten Gedanken zu machen. Ärzte verschreiben teure und unangemessene Leistungen, welche aber oft von den Patienten selbst eingefordert werden (Magnetresonanz für banale Gelenkschmerzen, Antibiotika bei viralen Infekten, Marken-Medikamente, usw...)

Daher, schreibt Richard Smith, sollten den Patienten einige Botschaften nicht vorenthalten werden:

  • Der Tod ist unvermeidbar
  • Die meisten schweren Erkrankungen können nicht geheilt werden
  • Mit Antibiotika heilt man keine Grippe
  • Prothesen gehen manchmal kaputt
  • Krankenhäuser sind gefährliche Orte
  • Alle Medikamente haben unerwünschte Nebenwirkungen
  • Die meisten sanitären Leistungen haben nur marginale Wirkung und viele wirken gar nicht
  • Das Screening produziert falsche positive und falsche negative Ergebnisse
  • Es gibt auch andere gute Ressourcen zum Investieren, als wahllos Technologie anzukaufen.

Mögen auch diese "neuen" Tendenzen der sich bildenden neuen Landesregierung eine Inspiration sein...

Mit einigen Auszügen aus dem blog von Nino Cartabellotta, presidente fondazione GIMBE

 http://www.huffingtonpost.it/nino-cartabellotta/una-relazione-terapeutica-tra-medico-e-paziente-ecco-come-dovrebbe-evolversi-la-medicina_b_4368781.html?utm_hp_ref=italy&ir=Italy

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Südtirolfoto/Seehauser

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Ritratto di Oliver H. (gesperrt)
Oliver H. (gesperrt) 6 Gennaio, 2014 - 12:15
Die 9 angesprochenen Punkte gefallen mir gut. Gerade im Bereich der Screeningverfahren ist mir aufgefallen, dass bedenklich viele Ärzte noch nie etwas von einem positiven prädiktivem Wert gehört haben. Was die Ressourcen angeht. Kürzlich sagte ein junger Arzt in einem Seminar zu uns: "Merkt euch eines: Zeit ist die wichtigste Ressource, die ihr für einen Patienten aufbringen könnt." Ich als Student habe somit wenig Praxiserfahrung. Dennoch denke ich, dass gerade in Hinblick auf die Alterspyramide (geburtenstarke Jahrgänge kommen demnächst statistisch in jenes Alter, in welchem sie vermehrter medizinischer Betreuung bedürfen) wäre eine Aufstockung des Gesundheitspersonals sicherlich keine Fehlinvestition. Dabei müssen wir aber auch berücksichtigen: Was erwarten wir vom öffentlichen Gesundheitssystem? Wir können aber auch nicht alles pauschal auf die Allgemeinmediziner schieben, da diese derzeit ja auch schon in Arbeit ersticken. Einige Allgemeinmediziner in meinem Umfeld verlassen um 7:30 das Haus und kommen gegen 23:00 nach Hause und müssen dort nach eigenen Angaben noch rund 2 Stunden Dokumentationsarbeit leisten.
Ritratto di Frank Blumtritt
Frank Blumtritt 6 Gennaio, 2014 - 12:43
Aufstockung des Personals: an mancher Stelle sicher nötig und objektiv richtig, angesichts der zitierten Pyramide, aber keine automatische Lösung des Problems. Nicht vergessen: die Personalkosten machen den Großteil der Ressourcen aus, von denen wir immer weniger haben und die Gleichung "mehr Personal = mehr Zeit für den Patienten" funktioniert nur, wenn dieses zusätzliche Personal gelernt hat, seine Arbeitszeit zu managen und die richtigen Prioritäten zu setzen. Der Bedarf an Gesundheit ist eben ein Fass ohne Boden. Leider muss auch dazugesagt werden, dass, wenn unser Personal zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Dinge richtig tun würde, wir mit weitaus weniger Angestellten bessere Arbeit leisten könnten. Sometimes, less may be more...
Ritratto di Oliver H. (gesperrt)
Oliver H. (gesperrt) 8 Gennaio, 2014 - 10:11
Du hast vollkommen Recht. Zu viel Personal kann sogar schädlich sein, wenn es falsch eingesetzt wird. Es braucht auch gute Organisation. Oft sieht man beispielsweise, dass irgendwo mehrere Pfleger und vielleicht ein paar Famulanten herumstehen, aber nichts machen können da kein Arzt da ist. Oder wie viele Ärzte gibt es, die im Zweifingersystem Anamnesen, Befunde und Diagnosen eintippen und dabei immens viel Zeit verlieren? Würden sie den Studenten damit beauftragen, würde sich sowohl Patient, Arzt und Student viel Zeit ersparen. Gerade Famulanten in den ersten Studienjahren, die keine Ahnung haben, sind doch froh über jede Möglichkeit sich entlastend einzubringen und nicht nur blöd rumzustehen. Es gibt also Faktoren, die man lokal durch Eigeninitiative verbessern kann, es gibt aber in großen Bereichen auch ein Versagen der Politik und Verwaltung. Darauf hat das Personal leider keinen direkten Einfluss.
Ritratto di Alberto Stenico
Alberto Stenico 6 Gennaio, 2014 - 21:00
Bravo, Frank! Quest'anno, il Servizio Sanitario Nazionale (SSN) compie 35 anni; difendiamolo, festeggiamolo, ma facciamogli il tagliando. A partire dalla necessità di un nuovo rapporto tra cittadino ed istituzioni sanitarie e viceversa.
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